"Balance"
Horst Gerhard Haberl
DIE WELT HINTER DER WELT
Kunst-am-Bau-Projekte erschöpfen sich in der Regel an Fassaden- oder Vorplatzgestaltungen. Kunst im(!) Bau ist die folgerichtige Variante für das Gebäude einer Haftanstalt. So geschehen in der JVA Saarbrücken, wo Leslie Huppert mit ausgewählten Insassen fast grenzenlose Freiräume inszenierte: Balanceakte zwischen den Wirklichkeiten der individuell unterschiedlichen Lebensentwürfe ihrer künstlerischen Mitarbeiter auf Zeit. Entstanden sind alternative Utopien, die als Wand-Bilder und -Texte in den Raum greifen – einmal sinnentleert, dann wieder mit neuen Sinnstiftungen aufgeladen.
Künstlerische Interventionen in Strafanstalten als Teil integrativer Resozialisierung am Vollzugsort sind für mich nicht neu. Schon 1974, also vor rund 40 Jahren, war ich an einem derartigen Partizipationsprojekt mit Strafgefangenen im österreichischen Hochsicherheitsgefängnis Graz-Karlau maßgeblich beteiligt, das zuletzt sogar in eine öffentliche Diskussion der Inhaftierten mit Publikum von Draußen mündete. Die Kunstaktion stand im Kontext einer vom Justizministerium angestrebten Reform des Strafvollzugs. Man wollte zu dieser Zeit auch die Stimmen der Betroffenen hören. Damals ging es sowohl um den Strafvollzug als öffentliches Tabu als auch um den Begriff der Resozialisierung als wörtlich übersetzte Rückführung von Straftätern in die Gesellschaft. Ein Begriff, der bis heute ungemein belastet ist und nicht der gegebenen Wirklichkeit entspricht: „Ehemalige“ bleiben oft auch nach Verbüßung ihrer Strafzeit Außenseiter. Das führt zum Umkehrschluss, dass Maßnahmen zur Resozialisierung der Vorbereitung auf eine gesellschaftliche Außenseiterrolle dienen sollten. Zugegeben, ein radikales Statement. Aber für die am Projekt beteiligte Künstlergruppe war die in den frühen 70er-Jahren grassierende Skandalisierung, ja Kriminalisierung zeitgenössischer Kunstaktionen Anlass zum Aufzeigen gemeinsamer Positionen. Neben der Kritik am bestehenden Strafvollzug ging es daher ebenso um die Identifikation mit der gesellschaftlichen Randposition von Straffälligen, Kunstschaffenden, Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Migranten.
Nun stellt sich die Frage, hat sich in den vergangenen 40 Jahren daran Wesentliches geändert?
Für Leslie Huppert, eine leidenschaftliche Nomadin, der oft die eigene Haut zu eng wird, war die Einladung im „Knast“ zu arbeiten, keine geringe Herausforderung. Allerdings scheint sie, die weit gereiste künstlerische Feldforscherin, Extremsituationen geradezu zu lieben. So setzte sie sich etwa 2010 in Srinagar (Kaschmir/Indien) mit Campingstuhl und –tisch in die Mitte einer stark befahrenen Straße zu einer der dort herum streunenden und wiederkäuend lagernden (heiligen) Kühe und verzehrte Bananen, kommunizierte mit Vorbeigehenden – bis Soldaten die entstandene Menschenmenge auflösten. Die Kühe durften bleiben.
An ihrer Arbeit im Gefängnis faszinierte Leslie Huppert zunehmend die Situation des eigenen Ausgegrenzt-Seins inmitten von Ausgegrenzten. Zudem entdeckte sie das kreative Potenzial ihrer Projektgruppe, das sie wohl auch förderte. Die an sich transmedial agierende Künstlerin nahm den Auftrag, ein „ansprechendes Ambiente“ zu gestalten wörtlich. Die stark farbige Bilder- und Textflut an den Wänden spricht an und aus, was die dort einen Teil ihres Lebens auf sich selbst Zurückgeworfenen denken und fühlen. Sie näherte sich der ihr gestellten Aufgabe zunächst mit thematischen Vorgaben, gewissermaßen als Animationsprogramm für den Kontakt mit den ihr zugeteilten Häftlingen. In einer ersten bereits publizierten Phase der Zusammenarbeit stellte die Künstlerin Worte wie „Glaube, Liebe, Hoffnung“ für die Wandmalereien eines Flurs in den Raum.
In der nun zweiten Projektphase, um die es in dieser Dokumentation geht, postulierte Huppert das Stichwort „Balance“ als Anreiz, die engen Grenzen eines im Keller gelegenen fensterlosen Begegnungs-/Veranstaltungsraums aufzuheben bzw. nach einem individuell verschieden erhofften Draußen zu öffnen: „Achtung Fluchtgefahr!“
Leslie Huppert, die immer wieder ihre eigenen Befindlichkeiten an anderen austestet, ihre eigene Identität permanent in Frage stellt und Antworten aus der Kommunikation mit „fremden“ Identitäten zu filtern sucht, ging es um die Auslotung der Balance zwischen Verlust der Freiheit und ihrem möglichen Wiedergewinn, zwischen Absturz und wieder Haltfinden, zwischen Depression und neuem Lebensmut, zwischen der realen und virtuellen Welt: Anleitungen zur Selbstfindung!
Dass sie hierfür ihre eigene künstlerische Handschrift zugunsten der Selbstentäußerungen der ihr anvertrauten Häftlinge zurückfahren musste, war selbstverständlich. Nicht die Herstellung eines Kunstwerks war das Ziel, sondern die Schaffung einer im Beuys´schen Sinn Sozialen Plastik. Zur möglichen Interpretation dessen, was aus dieser kooperativen Kunstaktion entstanden ist, erinnere ich mich an ein Wortgebilde des Schriftstellers Peter Handke, das von einer „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ erzählt.
Was in dem von mir eingangs skizzierten Kunstprojekt vor 40 Jahren in der anklagenden Behauptung gipfelte: „Solange die Gesellschaft gestrauchelte Menschen wie leblose Objekte behandelt, ist sie entweder barbarisch oder krank“, spricht jetzt in Saarbrücken u.a. versöhnlich ironisch und zugleich hoffnungsvoll aus der Wand: „Aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen“.
Die gemachten Erfahrungen, vor allem aber die Begegnung mit ihren Projektteilnehmern hinter den Mauern der Haftanstalt haben Leslie Huppert nicht los gelassen. In ihrer spezifisch eigenen malerischen Handschrift schuf die mit einer multiplen Sinneswahrnehmung ausgestattete Synästhetikerin eine Porträtreihe ihrer „Jailbirds“ (Knastbrüder). Sie nennt sie auch „Schattenhelden“ und apostrophiert diese Gemälde und Zeichnungen rätselhaft mit „A VOID Hope“: Eine Leere, ein Nichts als Synonym für Hoffnung? Das geht nur zusammen, wenn man bedenkt, dass die Malerin nach ihren eigenen Worten „Welten hinter den Welten“ sichtbar machen will. Die Leere, das Nichts begriffen als Schwarzes Loch oder Wesenheit im Schlagschatten des Lichts, das Bild hinter dem Bild, das Bild im Bild: Geschichtssequenzen/ Bildsequenzen, die auf dem „inneren Monitor“, wie sie selbst sagt, erscheinen. Leslie Huppert ist sich nicht sicher, schließlich gestaltet sie nicht real (be)greifbare Gefühle.
Doch einer war sich sicher. In seinem Traktat über die „Vernunft“ der Philosophie gibt Friedrich Nietzsche Heraklit damit Recht, „dass das Sein eine leere Fiktion ist“. Und er folgert daraus: „Die ´scheinbare` Welt die einzige: die ´wahre Welt` ist nur h i n z u g e l o g e n …“
"Balance"
Kunst am Bau Projekt Nr.II in der JVA Saarbrücken
Projektbeschreibung der in der JVA Saarbrücken durchgeführten Wandmalerei in dem Multifunktionsraum.
In der JVA Saarbrücken gibt es einen Veranstaltungsraum, der für Theatervorstellungen, Therapieangebote und andere Veranstaltungen genutzt wird. Dieser Raum war völlig weiß und besitzt keine Fenster. Seitens der Direktion wurde es gewünscht, dass ich gemeinsam mit Insassen die Wände farbig gestalte.
Mein thematischer Vorschlag für die Gestaltung dieses Raumes beschäftigte sich mit Balance, innerer und äußerer Balance. Jeder Mensch befindet sich während seines Lebens ununterbrochen in Zuständen des Abwägens, des Ausgleichens, des Haltsuchens/Haltverlierens. Das Leben ist für absolut jeden von uns ein Balanceakt, der mehr oder weniger gespürt wird.
In einem Moment scheint man sicher zu stehen und sich voran zu bewegen, um im nächsten Moment in Gefahr zu geraten abzustürzen haltlos zu werden und in Abgründe zu fallen.
Manchmal schafft man es gerade noch sich in letzter Sekunde zu retten, Halt zu finden und die relative Stabilität der Balance zurückerobern zu können, aber in machen Situationen auch nicht.
Gerade im Gefängnis, auch im Besonderen in Bezug zur Resozialisierung, die ja eigentlich Ziel des Gefängnisaufenthaltes sein sollte, spiegelt sich diese Thematik der Balance und deren Verlustes, des Absturzes, aber auch der Möglichkeit neue Wege aufzutun und wieder zu einer inneren und äußeren Stabilität zu finden.
Ich wollte das Thema Balance, wie ich es gerade beschrieben habe als inhaltliche und bildnerische Grundlage für die Wandmalerei in dem Veranstaltungsraum nutzen. Ich bat die Teilnehmer ihre Erfahrungen und Gedanken zu dem Thema als Skizzen und Ideen auf Papier zu entwerfen. Graffitis und Textelemente konnten in die Arbeit genauso integriert werden, wie andere bildnerische Elemente.
Auch Fotos von körperlichen Balanceakten dienten als bildnerische Grundlage. Skizzen und Bildelemente wurden zuerst auf Papier entwickelt. Ich arbeitete mit 5 Teilnehmern über 3 Wochen, um aus den Entwürfen die Gesamtkomposition zu entwickeln und aufzubringen.
Eine meiner zentralen Erfahrungen in dem künstlerischen Projekt mit den Insassen in der JVA SB, war zu erleben, dass die künstlerische Beschäftigung mit einer eigenen Thematik sowie das eigenständige Tun die Teilnehmer enorm motiviert und begeistert hat und sich in beiden Projekten schnell eine zuverlässige engagierte homogene Gruppe bildete.